Salutogenese

Azra Pourgholam-Ernst erprobt eine neue Perspektive in empirischen Untersuchungen zum Gesundheitserleben ausländischer Frauen in Deutschland

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Begriff "Salutogenese" kündigt sich seit den 1990er Jahren ein neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit an. Geforscht wird nicht nach den Bedingungen der Krankheit, sondern nach denen der Gesundheit, weniger nach Risikofaktoren als nach Schutzfaktoren, die die Gesundheit erhalten. Warum werden Menschen unter ähnlichen äußeren Belastungen krank oder bleiben gesund?

Das salutogenetische Konzept, wie es maßgeblich der 1923 in den USA geborene und 1996 in Israel gestorben Medizinsoziologe Aaron Antonovsky entwickelt hat, führt die alte Tradition ganzheitlicher Perspektiven in der Medizin mit systemtheoretischer Präzisierung fort. Als innovativ gilt an diesem Konzept nicht zuletzt, dass es die Vorstellung von einem "gesunden" Zustand des Gleichgewichts und einem "kranken" des Ungleichgewichts im organischen und psychischen Systems eines Menschen verabschiedet. Das System befindet sich grundsätzlich in einem dynamisch bewegten Zustand partieller Unordnung. Nach Antonovsky gibt es keinen absoluten Gesundheits- bzw. Krankheitszustand, sondern die Menschen können mehr oder weniger gesund oder krank sein. Sie bewegen sich ständig in einem Kontinuum entweder in Richtung eines Gesundheits- oder eines Krankheitspols.

Ob jemand unter bestimmten Stressfaktoren eher gesund bleibt oder krank wird, hängt von seinen Widerstandsressourcen ab. Sie wiederum sind abhängig vom materiellen Status, von Wissen und Intelligenz, von seinem Selbstbewusstsein, von der Integration in sein kulturelles und soziales Umfeld, von seinem Lebensstil oder von Balance zwischen Überlastung und Unterforderung. Eine der wichtigstenWiderstandsressourcen ist nach Antonovsky das "Kohärenzgefühl" ("Sense of Coherence", kurz: "SOC"). Es besteht in dem Vertrauen darauf, dass man die Umwelt angemessen versteht, dass man die Fähigkeit hat, sie zu kontrollieren und zu beeinflussen, und dass man ihre Anforderungen als Herausforderungen begreift, die engagierte Anstrengung lohnen.

Die Psychologin Azra Pourgulam Ernst hat auf der Basis dieses Modells eine empirische Untersuchung über das Gesundheitserleben ausländischer Frauen in Deutschland durchgeführt. Die theoretischen Überlegungen ihrer Dissertation sind zu weiten Teilen aufschlussreicher und ergiebiger als die empirisch gewonnenen Ergebnisse. Ob die Entscheidung, statt qualitativer Interviews quantitative Untersuchungen unter Einsatz von Fragebogen und selbstkonstruierten Skalen durchzuführen, dem Postulat entspricht, nicht über, sondern mit Frauen zu forschen, mag man bezweifeln. Ob der Aufwand des empirischen Verfahrens in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht, ebenso. Die Resultate fasst die Autorin am Ende so zusammen: "Die Migration muss nicht zwangsläufig zu Gesundheitsbeeinträchtigung oder psychischen oder körperlichen Störungen führen. Migration kann ebenso gesundheitsfördernd und persönliches Wachstum bedeuten, wenn sie zum einen von den Migrantinnen als Herausforderung angenommen wird und wenn die Aufnahmegesellschaft zum anderen bestimmte Rahmenbedingungen schafft, die einen Umgang mit der Migration als Herausforderung möglich machen."

Diese Ergebnisse sind kaum überraschend und bestätigen an konkreten Fällen nur die allgemeinere Geltung der theoretischen Vorannahmen des salutogenetischen Konzepts. Erhellender ist die zuvor getroffene Feststellung, dass "ausländische Frauen, die aus sozialen Gründen in Deutschland leben, im Vergleich zu den politisch und ökonomisch motivierten Migrantinnen insgesamt bessere Werte in den Gesundheitsindikatoren" erreichen. Beachtenswert ist diese Dissertation jedoch vor allem deshalb, weil sie in allen Teilen deutlich macht, dass Gesundheit und Krankheit ein multifaktoriell bedingtes Geschehen sind. Es in seiner Komplexität zu erforschen erfordert eine Kooperation ganz unterschiedlicher Disziplinen.

Titelbild

Azra Pourgholam-Ernst: Das Gesundheitserleben von Frauen aus verschiedenen Kulturen. Frauen und Gesundheit.
Telos Verlag Dr. Roland Seim M.A., Münster 2002.
225 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3933060060

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch